Stimmen werden lauter, in Europa die Patente auf Arzneimittel gegen COVID-19 für die Allgemeinheit freizugeben und damit faktisch forschende Pharmaunternehmen zu enteignen.
Bildnachweis: Eine Frau erhält eine Impfung. Bildnachweis: iStock by Getty Images / Ridofranz
Ein Beitrag von Christof Kudla und Arkadius Dalek
Christof Kudla ist Chemiker und Patentanwalt in Solingen. Arkadius Dalek ist Patentanwalt in Heidenheim und auf dem Gebiet der Chemie tätig. Beide gehen in ihrem Beitrag der Frage nach, ob es in Europa möglich ist, Patente von Pharmaunternehmen durch staatliche Benutzungsanordnung auszuhebeln, um beispielsweise den aktuellen Lieferengpässen zu begegnen. Der Bericht soll auch zeigen, welche Alternativen abseits der staatlichen Einmischung möglich und sinnvoll sind. Eine Betrachtung, wie Patente und Ethik miteinander zusammenhängen.
Keine Frage, die Entwicklung von Arzneimitteln, besonders von Impfstoffen gegen Viruserkrankungen, wie COVID-19, sind mit hohem zeitlichen Aufwand und immensen Kosten verbunden. Besonders die verhältnismäßig langen Zulassungsverfahren mit komplexen Studien, können sich in der Regel über Monate oder gar Jahre hinziehen. Patente sollen derartigen forschenden Pharmaunternehmen helfen, diese hohen Investitionen abfedern zu können: Indem diese die Lehre des Patents für die Allgemeinheit offenlegen, sollen sie im Gegenzug ein zeitlich befristetes, staatliches Monopol erhalten. Mit diesem Recht kann das Pharmaunternehmen dann Konkurrenten von der gewerblichen Nutzung ausschließen. Es wird zum Monopolisten auf Zeit.
Das US-amerikanische Pharmaunternehmen Gilead machte sich mit seinen Exklusivverträgen für die USA vergangenes Jahr in Europa unbeliebt: Das Arzneimittel Remdesivir, das zur Behandlung der Erkrankung mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 herangezogen wird, wurde zum Großteil von den USA aufgekauft. Die Europäer kamen erst später zum Zuge. Aktuell können Pharmakonzerne wie AstraZeneca, Biontech/Pfizer ihre vereinbarten Liefermengen an die EU nicht halten. Im letztgenannten Fall will nun auch der französische Konkurrent Sanofi in die Produktion der Vakzine von Biontech einspringen.
Bei diesem Durcheinander um Liefermengen und fehlende Fertigungskapazitäten mehren sich die Stimmen nach einer staatlichen Regulierung. Die Frage dahinter ist: Dürfen in einer Pandemie solche Streitigkeiten vermeintlich auf dem Rücken der Erkrankten ausgetragen werden? Man stelle sich den zum Glück abwegigen Fall vor, dass zu einem Schwerverletzten gleichzeitig der Notarzt und der Rettungssanitäter an den Unfallort eintreffen und diese anfangen zu streiten, wer das Unfallopfer zuerst behandeln darf. Im Streit geht kostbare Zeit verloren, in der das Unfallopfer eigentlich versorgt werden könnte.
Wie könnte eine Intervention in solche Streitigkeiten aussehen? Nach dem deutschen Patentgesetz, das übrigens im Einklang mit Artikel 31 des TRIPS-Abkommens steht, gibt es zwei Möglichkeiten auf Arzneimittel erteilte Patente zugunsten der öffentlichen Versorgung auszuhebeln: Eine erste Möglichkeit ist über eine staatliche Benutzungsanordnung der Bundesregierung gemäß § 13 Patentgesetz. Die aktuelle Pandemielage könnte somit als Interesse der öffentlichen Wohlfahrt ausgelegt werden und damit zu einer solchen Benutzungsanordnung führen. In der gesamten deutschen Nachkriegsgeschichte sind jedoch nur drei Fälle bekannt, bei denen eine solche Anordnung verhängt wurde.
Die zweite Möglichkeit, dass auch ein Konkurrent ein solches Patent benutzen kann erfolgt über eine Zwangslizenz gemäß § 24 Patentgesetz. Die kann einerseits durch die Bundesregierung erfolgen, nämlich dann, wenn ein ausländisches Pharmaunternehmen das Patent in Deutschland zwar hält, es aber nicht nutzt oder nach Deutschland importiert. Im anderen Fall kann ein Konkurrent an den Patentinhaber eine Zwangslizenz vor dem Bundespatentgericht einklagen. Der Konkurrent muss sich jedoch vorher um den Abschluss eines angemessenen Lizenzvertrags mit dem Patentinhaber gekümmert haben, welcher ihm jedoch diesen verweigert haben müsste. Wird die Zwangslizenz nicht erteilt, steht der Konkurrent nun vor dem Risiko, vom Patentinhaber auf Patentverletzung verklagt zu werden. Um dem zuvorzukommen, bildet der Konkurrent Rücklagen in Höhe der aus seiner Sicht angemessenen Lizenz. Dennoch, das Prozessrisiko bleibt. Zudem spielt auch nicht minder gewichtig herein, dass dem zur Produktion des patentierten Arzneimittels willigen Konkurrenten schlichtweg das Technologiewissen fehlt. Er ist also auf einen Technologietransfer mit dem Patentinhaber angewiesen. Das ist auch aktuell der Grund, dass die beiden Konkurrenten Biontech und Sanofi zusammenarbeiten wollen.
Wo aber findet nun die Enteignung statt? Tatsächlich ist bis heute strittig, ob eine Anordnung oder Zwangslizenz eine Enteignung nach Art. 14 Grundgesetz ist. Ja, es ist ein Eingriff in das Eigentum des Patentinhabers. Zumindest in sein Recht zu bestimmen, wen er von der Nutzung des Patents ausschließen kann. Aber: Der zur Herstellung des patentierten Arzneimittels willige Konkurrent möchte eine Lizenz zahlen, ja er ist sogar dazu verpflichtet. Und auch im Falle der staatlichen Benutzungsanordnung hat der Patentinhaber gegen den Bund einen Anspruch auf angemessene Vergütung. Aus der Rechtspraxis wird dieser Schadensersatz geringer ausfallen, als das, was der Patentinhaber tatsächlich einnehmen könnte, wenn er das Arzneimittel selbst herstellen könnte. Was aber, wenn er mangels fehlender Kapazitäten nicht dazu kommt? Eine Enteignung wäre damit denkbar, dann aber immer gefolgt von einer Entschädigung.
Schaut man über die Grenzen hinaus fällt auf: Auf europäischer Ebene erteilte Patente unterliegen dem Europäischen Patentübereinkommen. Dieses kennt an sich solche Maßnahmen der Zwangslizenz oder Benutzungsanordnung nicht. Da das europäische Patent derzeit im engeren Sinne nichts anderes ist, als ein Bündel nationaler Patente, müssten derartige Zwangsmaßnahmen national erfolgen. Jeder der Mitgliedsstaaten der EU müsste dann ausgehend vom nationalen Patentrecht solche Mittel in Erwägung ziehen. Grundsätzlich gehören alle Mitgliedsstaaten der EU der WTO an und haben in ihrer nationalen Gesetzgebung zu Patenten ähnliche Regelungen, die aus dem eingangs erwähnten, verpflichtenden TRIPS-Abkommen herrühren. Ein möglicher Konsens in Pandemiezeiten kann schnell gehen, kann aber auch dauern. Und ein Alleingang Deutschlands in Sachen Zwangsmaßnahmen wäre ein Zeichen an die Pharmaindustrie: Du kannst zwar in Deutschland forschen und Patente anmelden, sicher sein kannst du aber nicht, ob sie nicht doch mit Zwang zur Benutzung für Wettbewerber auferlegt werden. Ein Grund mehr für solche Pharmaunternehmen den Forschungsstandort Deutschland in Zukunft mehr zu meiden. Das wird der Bund auch im Sinne gehabt haben, warum wir bis jetzt die Fälle von derartigen staatlichen Benutzungsanordnungen an nur einer Hand abzählen können.
Die Frage, was sinnvoller ist, Zwangsmaßnahmen oder Freiwilligkeit treibt uns Europäer schon seitdem es uns gibt um. Biontech und Sanofi probieren es jetzt kollegial. Durchaus hätte Sanofi auch auf eine Zwangslizenz drängen können. Anders gesehen: Könnte eine Zwangsmaßnahme nicht zugleich ein ethischer Beitrag eines Pharmaunternehmens sein, infolge einer solchen Enteignung seines Patents auf einen Teil der potentiellen Einnahmen zu verzichten, dafür aber es Konkurrenten zu ermöglichen Arzneimittel noch mehr Menschen in Europa schneller durchzuimpfen? Eine Zwangslizenz oder staatliche Benutzungsanordnung kann durchaus auch zeitlich und örtlich befristet sein. Warum also nicht bis Ende diesen Jahres auf eine solche pochen?
Wäre es abwegig Vakzine für den globalen Süden unter Zwangsmaßnahmen herstellen zu lassen? Stellen wir uns vor: Für jede zweite, in Deutschland hergestellte Impfdosis wird eine Impfdosis für die Versorgung der Menschen im globalen Süden bereitgestellt. „Der Begriff „öffentliches Interesse“ ist ein unbestimmter, von der Rechtsprechung auszufüllender Rechtsbegriff, der nicht statisch, sondern dem Wandel der Anschauungen unterworfen ist (vgl. Mes, 5. Aufl. 2020, Patentgesetz § 24 Rn. 14-19 mit weiteren Nachweisen; BGH GRUR 1996, 190 (192) – Interferon gamma).“, so eine Antwort der Bundesregierung auf Stellungnahme der kleine Anfrage der Abgeordneten Sylvia Gabelmann, Susanne Ferschl, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE im vergangenen Jahr. Eine Allianz von Pharmaunternehmen stellt mit vereinten Kräften, durch Technologieaustausch genügend Impfstoff für alle her, genügend, um bis zum Ende des Jahrs 2022 eine weltweite Herdenimmunität herzustellen. Und das über einen Mittelweg zwischen Freiwilligkeit und Zwang.